Furioses Finale für den Lamborghini Aventador

Laut, ungehobelt und aus jedem Blickwinkel provozierend: So hat der Lamborghini Aventador jetzt mehr als zehn Jahre das Segment der Supersportwagen dominiert. Bevor die Italiener ihren feurigsten Stier für immer in den Stall holen, machen sie ihn noch einmal so richtig wild. Zeit, für eine abschließende Würdigung.
Es ist Siesta-Zeit und das kleine Kaff, das sich da 50 Kilometer westlich von Sant’Agata Bolognese an einen großen Kreisverkehr kuschelt, dämmert in der Frühjahrssonne dem Nachmittag entgegen. Selbst die Carabinieri haben die Radarpistolen gesenkt, schmecken noch ihrer Pasta nach und sehnen sich nach einem Espresso. Da können sie in Brüssel noch so lange vom europäischen Blitzermarathon fabulieren, jetzt ist erst mal Mittagszeit.

Der blaue Donnerkeil brüllt und faucht


Und das ist auch gut so. Denn völlig unbehelligt fliegt plötzlich ein blauer Donnerkeil heran und zerreißt die schläfrige Stelle mit einem Brüllen und Fauchen, als hätten sich die Tore zur Hölle geöffnet: Lamborghini nimmt Abschied vom Aventador und schickt dafür den „Ultimae“ zur vermutlichen letzten Testfahrt durch das Geschlängel im Hinterland seiner Heimat. Kurz bevor der wildeste Stier aus Sant’Agata für immer in den Stall muss, gibt es für bescheidene Preise von 400.000 Euro aufwärts noch einmal 350 Coupés und 250 Roadster mit der kondensierten Essenz dessen, was den Aventador ausmacht: einem brutalen Design und einem brachialen Motor. Und beides haben die Italiener für das furiose Finale noch einmal nachgeschärft.
Natürlich lupfen auch die Herren der Staatsmacht kurz ihre Sonnenbrillen und schauen neugierig dem Roadster nach, der da so frech die Gunst der Stunde nutzt, den Blitzermarathon geschickt ignoriert und einen Hauch jenseits des Limits dem Ortschild entgegenfliegt. Doch aufspringen und hinterherfahren? No grazie. Erstens hätte ihr Fiat Tipo ja ohnehin keine Chance gegen den Tiefflieger, der im Ernstfall auf mehr als 350 km/h kommt. Und zweitens geht Liebe hier nicht nur durch den Magen, sondern auch durch den Wagen. In Italien immer und in der Emilia Romagna erst recht. Schließlich heißt der Landstrich zwischen Bologna und Mailand nicht umsonst Terri Motori, das Land der Motoren, weil hier mit Lamborghini, Maserati, Ferrari und Pagani gleich vier der berühmtesten Sportwagenhersteller der Welt zu Hause sind. Und der Aventador ist eines ihrer spektakulärsten Autos, der seit seinem Debüt alle Blicke gefangen hat, so extrem und kompromisslos ist seine Keilform und so laut der Lockruf seiner Leistung.


Vor mehr als zehn Jahren bei der Premiere noch pure Provokation und schier unerreichbar, ist der rasende Radikale mittlerweile zum Relikt einer Ära geworden, die unweigerlich zu Ende geht: Während die Hypersportwagen von heute bald dreimal so viel Leistung haben und nur noch elektrisch fahren, beugen sich die Autos in der Klasse darunter dem Zeitgeist und zügeln den Motoren mit Turbos oder schlimmer noch mit Hybrid-Bausteinen zwar den Durst, verbiegen dafür aber auch ihre Seele.
Der Aventador dagegen leistet sich einen Verbrenner, der seine Kraft allein dem Saugen nach Luft und dem Segen hoher Drehzahlen verdankt. Und von alledem hat er reichlich. Erst recht als „Ultimae“. Denn um dem letzten frei atmenden V12 ein Denkmal zu setzen, hat Lamborghini die Leistung des 6,5 Liter großen Kraftwerks auf bislang unerreichte 780 PS gesteigert und lässt den Motor drehen bis weit jenseits von 8.000 Touren.

780 PS sollten ausreichen


Im Zaum gehalten von einem Allradantrieb mit variabler Kraftverteilung und feinfühlig dirigiert von einem sequenziellen Getriebe mit Schaltzeiten auf Formel1-Niveau beschleunigt der Tiefflieger so schnell, dass die Ingenieure zum besseren Verständnis ein paar skurrile Vergleiche bemühen müssen. Die 2,8 Sekunden, in denen der Aventador die 100er-Marke erreicht, braucht ein Fernseher für den Wechsel zweier Kanäle. Während der 8,5 Sekunden einer durchschnittlichen Gelbphase hat der Brutalo-Bolide bereits 200 km/h auf der Uhr. Und wenn der gemeine Italiener binnen 30 Sekunden seinen Espresso schlürft, jagt der Lamborghini-Fahrer bereits mit 300 Sachen dem Horizont entgegen. Und das Ende der Fahnenstange ist damit noch gar nicht erreicht: Wer genügend Herz in der Hose und Strecke vor Augen hat, schafft sogar 355 km/h.
So brachial dieser Kraftakt auch klingt und so bitterböse der nur 1,13 Meter hohe aber dafür 2,03 Meter breite Tiefflieger auch gezeichnet ist, so verblüffend leicht und unschuldig lässt er sich fahren. Und während draußen der Fahrtwind längst Orkanstärke erreicht hat, zupft hinter der flachen Frontscheibe nur ein laues Lüftchen an den Locken. Erst wenn man die Schalterleiste auf der Mittelkonsole von „Strada“ über „Sport“ auf „Corsa“ durchklickt, zeigt der Aventador sein wahres Gesicht und wird so brutal und biestig, wie man es von ihm erwartet. Dann wechseln die Gänge in 50 Millisekunden, jeder Schaltvorgang wirkt wie ein Schlag ins Kreuz, das ESP ist nicht viel mehr als eine ferne Illusion von Sicherheit, der Zwölfzylinder brüllt jedes Selbstgespräch nieder und die Landpartie durch die Emilia Romagna wird zum Ritt auf Messers Schneide. Und auch wenn enge Kurven nicht eben seine leichteste Übung sind und man ihn bisweilen mit voller Macht wie durch ein Nadelöhr pressen muss, stürmt der wütende Stier die Hügel hinauf und die Serpentinen hinunter, als gäbe es kein Morgen mehr.
Und zumindest hier in seiner Heimat ist selbst der Blitzermarathon für ihn kein Thema, so stolz sind sie auf die Früchte der „Terri Motori“. Natürlich ist auch ein Lamborghini Aventador kein Freibrief für Raser, sondern ganz im Gegenteil braucht es in diesem Auto ganz besonders viel Willensstärke und Moral.
Und vor unfreiwilligen Stopps ist man selbst hier nicht gefeit. Im Gegenteil. Denn kaum ist die Siesta vorbei, sieht der blaue Lamborghini ein paar Dörfer weiter doch noch die rote Kelle. Und auch die Carabinieri sind Car Guys und wissen deshalb, dass sie diesen Lamborghini nicht mehr oft sehen werden. Während sie es normalerweise auf den Fahrer abgesehen haben bei ihren Kontrollen, geht es ihnen deshalb diesmal uns Fahrzeug. Und aufs Foto wollen sie am liebsten selbst. Dann schnell noch ein paar höfliche Worte und ein paar bewundernde Blicke und mit einem Arreviderci entlassen sie uns wieder auf die Straße. Weil darin neben allem Stolz und Lokalpatriotismus auch ein bisschen Sehnsucht mitschwingt und auch etwas Wehmut, verabschieden sie den Aventador mit einer auffordernden Geste. Und natürlich kommt der Fahrer diesem Wunsch bereitwillig nach, hält den ersten Gang einen Hauch länger und lässt den V12 so ein wenig lauter brüllen. Mag sein, dass die Siesta jetzt auch für den letzten vorbei ist. Aber wenn schon „Arrevidirci“, dann wenigstens all’arrabiata. Und wenn bald der Nachfolger kommt, dann hat der Zwölfzylinder ja ein Hybrid-Modul und der Mittagsschlaf geht in die Verlängerung.

Text: Benjamin Bisinger Fotos: Lamborghini